Brief an Bruder Bruno
gezeichnet von Carmen Cabert, geschrieben von Gisa Lang-Heyn
Ich beginne mit einer Majuskel, so wie sie damals in Euren Schreibstuben auch weniger als Buchstaben denn als Bilder entstanden sind. Wie soll ich Dich anreden? Magnifizenz? Eminenz? Prior? Bruder?
Siehst Du auf meinen Zeilen die Nervenfasern, wie sie sicher von links nach rechts verlaufen und dann doch abzureissen drohen? So viele Fragen stürmen auf mich ein, zu viele. Da leuchten Schaltstellen auf und es ist nicht sicher, ob sie den Gedankenfluss verbinden oder unterbrechen.
Nun sind die vielen Fragen, das Bündel von Ideen in Bruchstücke auseinandergefallen;
Entschuldige bitte, ich werde es noch einmal versuchen, ihrer habhaft zu werden.
Durchs Dunkel lasse ich den Faden der Gedanken hinunter, wie ein Fischer die Angel, und siehe da, in den Wellen des Schlafes werden sie wieder bunt und anschaulich, aber o je! Zu vorschnell taucht die Fang-Reuse hinab, um sie ans Licht zu ziehen; sie verschwinden in ihr, und nur ein paar kleine Wellen steigen auf und verraten, dass es sie gab.
So, jetzt aber endlich zur Sache.
Du siehst, wie energisch ich versuche, alles zusammenzuhalten. Wie es von einem Ausgangspunkt in die Tiefe geht, wie schwerwiegend die Gedanken sind, die mich umtreiben. Von oben stürzt die Energie nach unten.Kommt sie wieder nach oben? Schafft es der Pfeil? Versinkt Erlebtes oder steigt es als Erinnerung wieder auf? Das Wasser unten bildet eine in sich geschlossene Blase. Gibt es denn keine Verbindung zwischen den Ebenen?
Siehst Du: Hier herrscht Ordnung. Wenn man am Chaos zu verzweifeln droht,
empfiehlt es sich, die Dinge schön sauber aufzureihen und sie dann miteinander zu verbinden.
Wer braucht schon Farben?
Warum sich immer nur plagen? Sieh doch, wie lustig auch das Durcheinander sein kann!
Hat da jemand etwas zerbrochen? Eine Schale? Einen Krug? Den Gral?
Hast Du auch manchmal an der Drei-Einigkeit gezweifelt?
Nein, jetzt wieder ernsthaft. Was hälst Du davon, dass ich das Schriftbild umkehre?
Es sieht ein bisschen japanisch aus. Als ob da Bambus wächst.
Eigentlich muss Dir das gefallen, die Aufwärtsbewegung und in der Mitte der sichere Stamm.
Zu den Farben kannst Du Dir selber etwas einfallen lassen. Ja, ich weiss schon: Blutstropfen,
reines Wasser, ein bisschen Natur, Himmel und (ewiges) Licht.
Vor diesem Brief graust es mich. Ich habe ihn trotzdem geschrieben,
weil ich weiss, dass Du ein Fachmann in Märtyrertum bist.
Siehst Du all die Marterwerkzeuge? Das schlimmste ist der Essigschwamm. und ich frage Dich:
Warum müsst ihr Christen das Leid und den Schmerz immer noch schwerer, noch grösser darstellen?
Ich komme wieder auf unser Thema zurück: Den Fluss der Gedanken
Erleben und Erinnern
Wirklichkeit und Traum
Sprache und Bild
Die Zeilen werden weniger, die Zwischenräume grösser,
die Farbelemente klarer.
Soll heissen:
Die Ebenen bleiben getrennt?
Finde dich mit Bruchstücken ab?
Hör auf Zusammenhänge herzustellen, wo es keine gibt?
Lieber Bruno
Ich rede Dich noch einmal an, weil Dein Vorbild mich daran erinnert, dass immer wieder ein Anfang möglich ist.
Und so lasse ich hier Gedanken und Gefühle wie aus dem Nichts aufsteigen;
sie steigen auf und fallen in durchsichtigen Kaskaden in ein Boot, wo sie gesammelt werden. Ein Paar luftig leichte
Angeln unterstützen vielleicht den Fang, aber nichts Gewolltes und allzu Gesuchtes stört.
Es gibt nur die Leichtigkeit des Seins.
Und jetzt, lieber Bruno, lass uns tanzen, lass uns herumwirbeln, dass Deine filzige Kutte nur so fliegt.
Das ist keine unfromme Aufforderung, das ist die pure Lust am Dasein, wo sich alle Fragen von selbst beantworten,
wo aus konzentrischen Kreisen Lösungen entstehen, wo Farben sich am Rande unseres Tanzes bewegen,
wo Starres sich in Energie verwandelt.
Zum Abschied bitte ich Dich, noch einmal den Ersten Brief zu lesen.
Du siehst, hier ist vieles heller geworden. Die Zeilen, die Gedanken sind näher zusammengerückt,
sind gleichzeitig durchlässiger geworden. Du hast mir zugehört und über die Jahrhunderte hinweg gezeigt,
dass Fragen und ihre möglichen Antworten nur dargestellt, in Bild oder Schrift sichtbar werden können,
aber niemals als fester Besitz in donnernden Predigten verkündet werden sollen.
Dafür danke ich Dir. Punktum